8. Das Experimentum Crucis:

Professor Auner gilt als Fachmann für siliziumhaltige organische Verbindungen. Er ist Berater der Wacker Chemie München und Dow Coming Chemical USA. Zum Zeitpunkt als die beiden Chemiker Auner und Plichta sich kennen lernten, war Auner noch an der Humboldt Universität Berlin. Die Nachricht von der Stickstoffverbrennung traf ihn wie ein Schock. Obwohl für die Borane schon ein Nobelpreis vergeben worden ist, und die Stickstoffverbrennung die Chemie gewissermaßen auf den Kopf stellt,
verleugnete er die Silan-Stickstoff-Verbrennung gegen alle Regeln eines gesunden Chemikerverstandes. Immerhin erklärte er sich bereit, Probemengen Cyclopentasilan (CPS) herzustellen, damit diese am „Fraunhofer Institut für chemische Technologie“ (ICT) in Berghausen kaloriemetrisch vermessen werden konnten. Zur Bestimmung des spezifischen Impulses (Schub x Wirkungszeit pro Gewichtseinheit: [F∆t/m]=Nsec/kg) wurde eine Reihe von Glasampullen, in denen sich CPS befand, mit reinem Sauerstoff verbrannt. Dabei zeigte sich, dass CPS den gleichen spezifischen Impuls wie Kerosin besitzt (2890), während unsymmetrisches Dimethylhydrazin (UDMH) ein wenig höher bei etwa 2990 liegt. Da CPS ungiftig ist, während UDMH als höchst carcinogen gilt, und beide Stoffe mit Oxidatoren von alleine zünden, war somit endlich ein Ersatztreibstoff für die Oberstufe der Ariane V entdeckt. Was Professor Auner nicht wissen konnte: Er war in die gleiche Falle gelaufen wie Professor Fehér zuvor. Hätte er Literaturrecherche lege artis betrieben, wäre ihm bekannt gewesen, dass in der Verbrennungsasche unverbranntes Silizium übrig bleibt. In einem heißen Raketenmotor würde das Silizium natürlich mit dem Oxidator quantitativ verbrennen, aber eben nicht in einem Kaloriemeter bei Raumtemperatur. Weder Auner noch der Physiker Dr. Kelzenberg vom ICT hatten eine Ahnung davon, dass ihre Vermessungen falsch waren, einfach weil sie sich über die Bildungsenthalpie der SiH2-SiH2-Bindung nicht im Klaren waren.

Was aber auch Plichta zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, war die Vermutung, dass Auner alle betrogen hatte, weil seine Silanproben gar kein reines Cyclopentasilan waren, sondern ein Phenylpentasilan, also ein Benzolring verknüpft mit einem Fünfring aus Siliziumatomen. Prof. Auner war 1999 längst Ordinarius an einem der berühmtesten Lehrstühle für Anorganische Chemie. Er hatte es ein Jahr lang nicht fertig gebracht, die letzte Benzolgruppe abzutrennen, worüber noch berichtet wird.
       

Wegen der Heftigkeit, mit der Auner die Silan-Stickstoff-Verbrennung bekämpfte, zog sich Plichta ein zweites Mal aus der Silanchemie zurück (1999). Doch nun trat, wie in einem Drama, ein merkwürdiges koinzidentes Moment ein. Plichta hatte sich 1997 an den Leiter der Forschungsabteilung der Wacker Chemie in Burghausen, Professor Dr. Lutz Rösch, gewandt, um dort gegen Rechnung Probemengen von CPS herstellen zu lassen. Da er gleichzeitig auf die Stickstoffverbrennung von Silanen hingewiesen hatte, war Rösch natürlich darüber vorgewarnt, dass einmal bei der Herstellung von Ausgangssubstanzen für Siliconöle (z.B. Dimethyldichlorsilan) unverbrauchte Rückstände von angeätztem Silizium mit reinem Stickstoff heftig brennen könnten. Rösch hatte jeden Gedanken an eine Herstellung von CPS zurückgewiesen.
       

Ein Jahr später war es zu einem brisanten Chemieunfall gekommen. Große Mengen von unverbrauchtem Silizium, die in einem Stahlbehälter gesammelt worden waren, hatten angefangen mit Stickstoff zu brennen. Die Gründe dafür wurden später von Wacker- Chemikern experimentell präzise untersucht. Bei der Müller-Rochow-Synthese wird als Katalysator eine Mischung aus Kupfer/Kupferoxid-Pulver verwendet. Da der Katalysator unverbraucht mit in den Stahlbehälter gelangt, war es zu einer einfachen Hüttenprozess ähnlichen chemischen Reaktion gekommen. Das Kupferoxid hatte mit heißem Silizium unter starker Wärmeabgabe reagiert (2CuO + Si → SiO2 + 2Cu). Die Temperaturfühler hatten die ungewöhnliche Hitzeentwicklung registriert, und man wollte der teuren Vernichtung des gesammelten Siliziums ein Ende bereiten. Hierzu war Reinstickstoff aufgepresst worden. Im selben Moment entwickelte sich in dem Stahlbehälter eine höllische Hitze. Feuerwehrleute begannen, den Behälter über Wasserschläuche zu kühlen und Rösch ordnete an, den Stickstoff aus dem Behälter zu entfernen und durch das Edelgas Argon zu ersetzen. Dadurch war die Katastrophe abgewendet worden. Als der Behälter geöffnet wurde, fand man eine weiße Substanz als Asche vor, die sich bei der chemischen Analyse als Siliziumnitrid identifizieren ließ.
       

Rösch hätte sich nunmehr bei Plichta bedanken müssen, aber schon sein Desinteresse an Silanen ist bezeichnend für diese Art von chemischem Naturell. Da er zu diesem Zeitpunkt in den Ruhestand trat, hatte sein Nachfolger, der Chefchemiker Dr. Richard Weidner von der Korrespondenz über Silane natürlich keine Ahnung. Im Frühjahr 2000 telefonierte er mit einem Freund und der hieß Professor Norbert Auner. Dieser kam auf die Silan-Luftstickstoffverbrennung zu sprechen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass in einer heißen Brennkammer Silane spontan in freie Wasserstoffatome und Siliziumradikale zerfallen. Bei einem Überschuss von Silanen kommt es zu einer reduzierenden Atmosphäre, sodass der Sauerstoffanteil der Luft stöchiometrisch mit dem überschüssigen atomaren Wasserstoff H1 reagiert, und eben keine Siliziumoxide entstehen können. Die freien Siliziumatome werden jetzt natürlich äußerst heftig mit dem als inert geltenden Stickstoff reagieren. Einen solch einfachen chemischen Zusammenhang nicht zu verstehen, ist für einen „Siliziumberater“ eher eine Peinlichkeit. Weidner wies Auner nun auf den Beinaheunfall hin, der als Betriebsgeheimnis eingestuft worden war. Merkwürdigerweise haben aber die Chemiker in Burghausen kein Patent dahingehend eingereicht, wie man Luftstickstoff, beispielsweise in der Raumfahrt, mit angeätztem Silizium verbrennen könnte, sondern stattdessen ein Verfahren zum Patent angemeldet, wie die Silizium-Stickstoff-Verbrennung bei der Müller-Rochow-Synthese vermieden werden kann.
       

Eine solch närrische Vorgehensweise war die Chance für Auner. Er schrieb ausgerechnet mit Plichtas Patentanwalt Dr. Döring klammheimlich eine Patentanmeldung über ein Verfahren, Silane in einer Brennkammer mit Luftstickstoff zu verbrennen. Clou des Verfahrens sollte die Anwesenheit von Kupfer/Kupferoxid als Katalysator sein. Da die Verbrennung von Siliziumpulver mit Luftstickstoff von Plichta schon patentiert war, ist ihm offensichtlich nicht klar gewesen, dass das Kupferoxid gar keinen Katalysator, sondern einen Sauerstoff liefernden Stoff darstellt. Da die Stickstoffverbrennung mit Sicherheit zur Verleihung des Nobelpreises führen wird, wandte sich Auner an Redakteure des Nachrichtenmagazins „Der Stern“. Dort war man schon einmal auf gefälschte Hitlertagebücher reingefallen und hatte nichts dazugelernt. Die Katastrophe nahm ihren Lauf.

9. Das Buch "Benzin aus Sand"

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